Das Jahr 1923 war eine Zeitenwende – politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Nach umfangreichen Recherchen hat der Historiker Peter Süß ein Buch veröffentlicht, das neue Einsichten in diesen ebenso schillernden wie bedrückenden Zeitabschnitt bietet. Nun hat er es im Deutschen Spionagemuseum vorgestellt.
Gleich zu Beginn der Veranstaltung zeigte Peter Süß an ausgewählten Textpassagen seines Buches 1923 – Endstation. Alles einsteigen! auf, wie vielschichtig das Jahr 1923 ausfiel. Das Spektrum der geschilderten Ereignisse umfasste einerseits Persönlichkeiten, an die sich heute nur noch Fachleute erinnern, wie die Tänzerin Anita Berber, deren erotische Tanzvorstellungen und Skandale damals berühmt und berüchtigt, doch heute oft vergessen sind.
Anderseits traten 1923 auch berühmte Persönlichkeiten ins Licht der Geschichte. Dazu gehören so unterschiedliche Biografien wie Berthold Brecht, dem sein Durchbruch gelang, und Adolf Hitler, dessen erster Griff zur Macht spektakulär scheiterte.
Das Buch könne laut Süß keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben, sondern auf unterhaltsame Art und Weise ein wildes, buntes Bild einer wilden, bunten Zeit vermitteln. Es zeige kleine und große Persönlichkeiten und Schicksale – manche waren nur einige Wochen Stadtgespräch, manche hatten weltpolitische Auswirkungen.
Auf die Frage, wie Süß zu dem Thema kam, erläuterte dieser, dass er im Jahr 2019 den Wunsch verspürt hatte, wieder etwas Längeres zu schreiben. In den letzten Jahrzehnten hatte er vor allem als Chefautor und Produzent mehrerer DailySoaps und Tele- bzw. Daily-Novelas gearbeitet.
Als entscheidenden Moment nannte er den Fund eines Zitats des Schriftstellers Sebastian Haffner: !1923 (…) dieses „tolle Jahr“ ist heute halb vergessen, aber es war das erregendste von vielen aufregenden Jahren, die Deutschland (…) durchlebt hat.“
Dadurch angeregt begab sich Süß in aufwendiger Recherche auf die Suche, was das Jahr 1923 tatsächlich an Geschichten zu bieten hatte. Er sichtete Briefsammlungen, Biografien und kulturgeschichtliche Publikationen. Schon bald zeigte sich: Haffner hatte nicht übertrieben. Süß entdeckte für das Jahr 1923 eine krisenhafte Zuspitzung in allen Bereichen – Politik, Wirtschaft, Kultur.
Sicherlich könne man von einem Schicksalsjahr für Deutschland sprechen, so der Autor. Alle Entwicklungen der darauffolgenden berühmten Goldenen 20er-Jahre ließen sich schon zu diesem frühen Zeitpunkt finden. Peter Süß zufolge ist der fiktionale Anteil der Schilderungen im Buch gleich null. Alles ist auf Quellen zurückzuführen, die dem Anhang des Buches zu entnehmen sind. Sein Anspruch sei es gewesen, lehrreiche Unterhaltung ohne Verfälschungen zu bieten.
Mit einem Jahrhundertvergleich und konkreten Parallelen zwischen 1923 und dem gegenwärtigen 2023 tat sich Peter Süß schwer. Auch wenn sich auf den ersten Blick sowohl politisch als auch wirtschaftlich oberflächliche Parallelen finden ließen, müsse doch festgehalten werden, dass sich diese Entwicklungen auf völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Grundlagen bewegen.
1923 war der Erste Weltkrieg gerade einmal fünf Jahre vergangen, die Gewaltbereitschaft sei generell höher gewesen als heute. Immer wieder kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen und Straßenschlachten, die jungen Demokratie war noch nicht gefestigt.
Die harten Lebenserfahrungen der Menschen damals seien auch ein Erklärungsansatz für die ungeheure Schnelllebigkeit und Vergnügungslust, welche die Zeit prägten. Es gab keine Sicherheit, was die nächsten Jahre bringen würden und man wollte daher das Leben bestmöglich auskosten – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten.
Denn in aller Pracht konnten die heute oft so glamourös dargestellten Zeiten tatsächlich nur Wenige erleben, während bei großen Teilen der Bevölkerung der durchschnittliche Lebensstandard deutlich niedriger gewesen sei als heute.
Autor: Florian Schimikowski
Veröffentlicht am: 09.05.2023