Bis heute hält sich der Mythos, dass die Hauptverwaltung A als Stasi-Abteilung für Auslandsspionage zu den besten und erfolgreichsten Geheimdiensten des Kalten Kriegs gehörte. Der Historiker Michael Wala erhielt Zugang zu bislang nicht ausgewerteten Dokumenten des Verfassungsschutzes zur HV A, ging dem Mythos auf den Grund und stellte seine Ergebnisse im Deutschen Spionagemuseum vor.
Wala ist Nordamerika-Historiker mit Professur an der Universität in Bochum und zudem Spezialist für die Geschichte der Nachrichtendienste. Forschungsschwerpunkte bilden die deutsch-amerikanischen Geheimdienst-Beziehungen, die interne Zusammenarbeit zwischen den Nachrichtendiensten der USA und nicht zuletzt die Geschichte des deutschen Verfassungsschutzes. Diesem Thema widmet sich auch Walas neueste Publikation „Der Stasi-Mythos. DDR-Auslandsspionage und der Verfassungsschutz“, das er am 26. Oktober 2023 im Deutschen Spionagemuseum vorstellte.
Eingangs erläuterte Rüdiger Bergien, ebenfalls ein profunder Kenner der Geheimdienstgeschichte und Moderator des Abends, was es denn mit dem Stasi-Mythos und der Hauptverwaltung A (HV A) auf sich hat. Um diese Abteilung für Auslandsspionage im Ministerium für Staatssicherheit der DDR entwickelte sich im Laufe des Kalten Kriegs durch starke mediale Rezeption und Schilderungen ehemaliger HVA-Mitarbeiter der Mythos eines besonders wirkmächtigen Geheimdienstes, dessen Arbeit angeblich viele westliche Dienste in den Schatten stellte.
Laut Wala bildete die Grundlage der neuen Publikation eine zweieinhalb Jahre lange exklusive Recherche in Archiven des Verfassungsschutzes. Dabei zeigte sich, dass der Verfassungsschutz vor allem dank Überläufern viele Informationen über die Struktur der HV A erhielt. Besonders hervorzuheben sei hier natürlich Werner Stiller, aber er war beileibe nicht der einzige. Zudem boten bis zum Mauerbau auch Notaufnahmelager für Flüchtlinge aus der DDR zahlreiche Möglichkeiten, Informationen zu sammeln und Quellen anzuwerben.
Als dominierende Zielrichtungen der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes definierte Wala:
Wie Walas Recherchen zeigten, konnte der Verfassungsschutz beispielsweise wiederkehrende Muster bei der Agentenschleusung der HV A identifizieren. Diese Muster bezogen sich auf die Art und Weise, wie versucht wurde, die eingeschleusten Agenten in dem Land, in dem sie operieren sollten, zu legalisieren.
Der dazu ausgeführte Ablauf von Einreise der Agenten aus dem Ausland sowie rasch folgenden Um- und Anmeldungen durch gezielte Umzüge war oft sehr ähnlich. So ähnlich, dass es dem Verfassungsschutz schließlich gelang, wiederholt HV A-Agenten zu identifizieren und zu enttarnen.
Auf Grundlage dieser Erkenntnisse gelang es dem Verfassungsschutz ab dem 1970er-Jahren im Rahmen der Operation Anmeldung, einen wichtigen Erfolg gegen die Agentennetzwerke der HV A zu fahren. Wala zufolge wurden dabei bewusst sehr rasch mehrere Agenten verhaftet, mit dem Ziel, auf diese Weise eine Verunsicherung innerhalb der HV A herbeizuführen, welche diese zum präventiven Rückzug zahlreicher nicht-enttarnter Agenten veranlassen sollte.
Das Konzept ging auf, die HV A reagierte und zog fast 100 Agenten zurück. Dies war sowohl aus nachrichtendienstlicher als auch aus monetärer Sicht ein herber Rückschlag für die Auslandsaufklärung der DDR, denn die Ausbildung der Agenten gestaltete sich zeit- und kostenaufwendig. Durch den vorzeitigen Rückzug wurde so viel Geld verbrannt.
Die Operation Anmeldung lief noch bis in die 1990er-Jahre mit großem Erfolg. Insgesamt konnte man fast 500 Agenten identifizieren. Solche Informationen wurden mit internationalen Partnerdiensten geteilt, die identifizierten Agenten waren also nach Ausreise für die HV A nicht mehr anderweitig einsetzbar. Es handelte sich um die erfolgreichste Aktion der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes im Kalten Krieg.
Wala führte ein weiteres Beispiel aus, bei dem die HV A seiner Auffassung nach ihrem Mythos nicht gerecht wurde. Schon bei der Operation Anmeldung habe die HV A zwar die Anzeichen der Verfassungsschutz-Aktion erkannt. Man sei aber davon ausgegangen, dass die ersten Agenten-Enttarnungen Zufall waren. Ein Geheimdienst jedoch, der solche Entwicklungen nicht sofort hinterfragt und analysiert, sondern sie als Zufall abhandele, handelt Walla zufolge grob fahrlässig.
Bei der Funk-Chiffrierung passierte etwas ähnliches: Bis 1959 nutzte die HV A ein kryptographisches Verfahren, dass auf Merksätzen von Klassikern der deutschen Dichtkunst aufbaute. Nachdem man der Verfassungsschutzes dies entdeckt hatte, gelang es, zahlreiche HV A-Funksprüche zu dechiffrieren. Dies führte unter anderem zur Enttarnung von Kanzleramtsspion Günter Guillaume.
Auch diese Schwachstelle sei von der HV A zwar entdeckt worden, man ging aber davon aus, dass nur ein Bruchteil der Funksprüche geknackt werden könne. Laut Wala unterschätzte die HV A die Situation also drastisch.
Walas Einblicke in die Ergebnisse seiner Recherchen an diesem Abend stellten natürlich nur einen kleinen Teil der in der Publikation versammelten Erkenntnisse dar. Doch schon diese Beispiele genügten, dass der Mythos HV A für die meisten der im ausgebuchten Veranstaltungsraum anwesenden Besucher deutliche Risse bekam.
Autor: Florian Schimikowski
Veröffentlicht am: 17.11.2023