Katastrophe für MI6-Operationen im 2. Weltkrieg: der Venlo-Zwischenfall am 9. November 1939

Die Enttarnung von zwei britischen MI6-Agenten durch die SS nahe der niederländischen Stadt Venlo kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte weitreichende Folgen: Einerseits für die Arbeit des britischen Geheimdiensts in Europa und andererseits für die Niederlande selbst.

Geheimtreff im Café Backus

Die Situation war explosiv: Am 1. September hatte Adolf Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg in Europa ausgelöst. Als unmittelbare Folge erklärten zwei Tage später das Vereinigte Königreich und Frankreich, die zuvor in einer gemeinsamen Erklärung Polen die Unabhängigkeit garantiert hatten, Deutschland den Krieg. In den Folgemonaten kam es an der Westfront noch nicht zu ausgedehnten Kampfhandlungen, alle Seiten blieben weitgehend passiv. Für diesen Zustand hat sich der Begriff Sitzkrieg etabliert.

Durchaus aktiv waren in jener Zeit allerdings die Geheimdienste. In den Niederlanden agierte die von Sigismund Payne Best geleitete Organisation Z des britischen Secret Intelligence Service (besser bekannt als MI6). Kontakte des britischen Geheimdiensts mit Hitlergegnern aus den Reihen der Wehrmacht nährten in London die Hoffnung auf eine Beseitigung Hitlers. Mehrmals bereits hatten Treffen zwischen MI6-Agenten  und den Hitlergegnern stattgefunden. Am 9. November 1939 machten sich Best und sein Mitarbeiter Richard Henry Stevens zu einem weiteren Treffen auf.

Der Ort des Venlo-Zwischenfalls: Café Backus im niederländischen Grenzland

Was die MI6-Agenten nicht ahnten: Sie liefen geradewegs in eine Falle der SS. Deutsche Geheimagenten hatten den Kontakt und eine falsche Legende aufgebaut. Treffpunkt war das Café Backus direkt an der Grenze. Als die Briten dort vorfuhren, wurden sie umgehend von einem deutschen Sonderkommando festgenommen und nach Deutschland entführt. Ein zu den Briten gehörender niederländischer Geheimdienstler leistete Gegenwehr, wurde angeschossen und erlag seinen Verletzungen.

Folgenschwere Enttarnung von MI6-Agenten

Für das britische Spionagenetzwerk in Europa war die Entführung der MI6-Agenten ein enormer Rückschlag. Beide MI6-Agenten verrieten zahlreiche Details zur Arbeit des MI6. Dadurch wurden große Teile des britischen Spionagenetzwerks in Mitteleuropa unbrauchbar. Als Reaktion auf das Ereignis trat zudem der niederländische Geheimdienstchef zurück.

In der deutschen Presse stellte man die beiden Agenten als angebliche Drahtzieher hinter dem Attentat gegen Adolf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller vom 8. November 1939 dar. Die Anschuldigungen sollten antibritische Stimmungen aufheizen und die Niederlande diskreditieren, entbehrten aber jeder Grundlage. Da die Festnahme der Agenten auf Boden der neutralen Niederlande rechtswidrig war, behauptete man, diese hätten versucht, über die Grenze in Deutschland einzudringen.

Meldung über die Gefangenenahme der MI6-Agenten in der Berliner Morgenpost

Vor allem aber diente die Involvierung der Niederlande Hitler als zusätzliche Begründung, um am 10. Mai 1940 in die Niederlande einzumarschieren, da diese „Kriegsgegner Deutschlands begünstigt“ hätte. Bereits am 15. Mai 1940 kapitulierten die niederländischen Streitkräfte.

Das weitere Schicksal der MI6-Agenten

Beide MI6-Agenten verbrachten den Rest des Zweiten Weltkriegs in Haft in den KZs Sachsenhausen und Dachau. Als hochrangige Geheimdienstmitarbeiter erhielten sie den Status von Sonderhäftlingen. Als sich die deutsche Niederlage abzeichnete, sollten sie mit weiteren prominenten Häftlingen nach Südtirol gebracht werden, um dort als Druckmittel bei Waffenstillstandsverhandlungen mit den Westalliierten zu dienen.

Bei dem Verlegungstransport durch SS-Einheiten wurden die Häftlinge am 30. April 1945 durch Soldaten der Wehrmacht befreit. Nach Kapitulation der Wehrmacht in Italien am 2. Mai 1945 übergab man die Häftlinge wenige Tage später den eintreffenden US-Einheiten.

Einige der befreiten Sonderhäftlinge am 5. Mai 1945, MI6-Agent Best mit schwarzer Jacke

Beide Agenten beendeten nach dem Krieg ihre Tätigkeit für den britischen Geheimdienst. Richard Henry Stevens arbeitete danach als Übersetzer und starb 1967. Sigismund Payne Best veröffentlichte mit seiner Autobiografie The Venlo Incident 1950 einen Bestseller, er starb 1978. 2009 gab der MI6 die offiziellen Dokumente zum Venlo-Zwischenfall frei.


Bilder: Café Backus: Nationaal Archief, CC0, via Wikimedia Commons | Befreite Geiseln: US military press, Public domain, via Wikimedia Commons

Autor: Florian Schimikowski

Veröffentlicht am: 09.11.2024