Wohl kaum eine technische Errungenschaft hat solch eine mystische Bedeutung wie die deutsche Enigma-Chiffriermaschine. Erst in den 1970er-Jahren wurde bekannt, dass der britische Mathematiker Alan Turing und sein Team im Bletchley Park bei London im Zweiten Weltkrieg das Enigma-Prinzip geknackt hatten und den gesamten deutschen Funkverkehr mithörten.
Was lange geheim war, findet sich mittlerweile in einer Vielzahl an Publikationen und Filmen. Im Deutschen Spionagemuseum allerdings kam man am 5. Dezember 2017 der spannenden Geschichte um die Enigma näher, als dies Bücher oder Filme leisten können: Zum ersten und vielleicht einzigen Mal trafen zwei Persönlichkeiten aufeinander, deren Lebenswege eng mit der Enigma verbunden sind.
Rudolf Staritz (*1921), letzter Zeitzeuge aus Hitlers militärischem Geheimdienst „Amt Ausland/Abwehr“, sprach mit Sir John Dermot Turing (*1961), dem Neffen von Alan Turing, über die Enigma und ihre Entschlüsselung. Beide sind Experten auf ihrem Gebiet.
Staritz hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute intensiv mit Funk- und Medientechnik auseinandergesetzt. Sein Wissen floss in diverse Publikationen ein, von denen einige wie „Wireless for the Warrior“ heute zu Standardwerken gehören.
Sir Dermot Turing setzte sich im Laufe seiner Karriere mit einer Vielzahl unterschiedlichster Themen auseinander. Er ist gleichzeitig Anwalt, Bänker, Autor und Historiker. Zu seinen Schwerpunkten zählt auch die Aufarbeitung des Schaffens seines berühmten Onkels Alan Turing. Der gewaltige Wissensschatz dieser beiden Protagonisten konnten unter der Moderation von Philip Oltermann, Büroleiter der Berliner Niederlassung des „The Guardian“, nur angerissen werden.
Die Einblicke in das Leben und Werk Turings sowie die Stärken und Schwächen der deutschen Funk- und Chiffrierkünste im Zweiten Weltkrieg bildeten dabei nur den Anfang. Der Abend bot auch Einblicke in die Frühzeit der Enigma-Entschlüsselung, die, wie Dermot Turing unterhaltsam darlegte, lange vor Alan Turing begann. Staritz ergänzte mit seinen kenntnisreichen, selbsterlebten und humorvollen Berichten, wie leicht es die oftmals schlampigen Funkverschlüsselungen der Deutschen den Feinden oft machten.
Besonders interessant waren die Schilderungen von Staritz und Turing zur Nutzung der Enigma nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Geschichte der Chiffriermaschine endete nämlich keineswegs mit der deutschen Kapitulation, sondern erst viele Jahre später. Dem Gespräch tat gerade die Distanz zur familiären oder beruflichen Vergangenheit gut. Ein Loblied auf die technischen Errungenschaften irgendeiner Seite wollte keiner singen oder einzelne Personen zum Helden verklären. Turing stellte klar, dass sein Onkel nicht, wie oft postuliert, alleine den Krieg gegen die Deutschen gewonnen habe. Aber einen Beitrag habe er zur Kriegsentwicklung geleistet – zusammen mit vielen weiteren Akteuren.
Die neugierigen Fragen des vollbesetzten Auditoriums waren zu zahlreich, um sie in der Veranstaltung alle zu beantworten. Auch nach dem Podiumsgespräch standen Staritz und Turing den Besuchern für Einzelgespräche zur Verfügung.
Zudem gab es für die Besucher noch ein besonderes Highlight. Sie konnten eine originale Enigma aus unmittelbarer Nähe betrachten. Anwesende Experten gaven vor Ort Einblicke in die Nutzung des Gerätes. Unter den zahlreichen Besuchern der Veranstaltung fanden sich auch Angehörige des Admirals Canaris (Abwehrchef im Dritten Reich) und der Sohn von Oberst Hansen (Nachfolger von Canaris 1945).
Die nächste Veranstaltung im Deutschen Spionagemuseum am 7. Dezember 2017 widmet sich einem Thema, dass auch heute noch Aktualität besitzt. Der Historiker Keith Allen beschäftigt sich in seinem neuen Buch „Interrogation Nation“ mit der Befragung von Flüchtlingen durch westliche Geheimdienste. Der Eintritt ist frei.
Autor: Florian Schimikowski
Veröffentlicht am: 07.12.2017