Der Amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) gilt als der erste moderne Krieg der Geschichte. Das liegt vor allem an der modernen Technik, die dabei zum Einsatz kam: Die Eisenbahn ermöglichte eine schnelleren Transport von Truppen und Material. Die Feuerkraft wurde durch neue Waffen wie Schnellfeuergewehre erhöht, der Krieg zur See durch gepanzerte Kanonenboote und sogar erste U-Boote ausgefochten.
Auch die Spionage spielte eine wesentliche Rolle im Krieg, legendär ist der Spionagering „Richmond Underground“ von Elizabeth van Lew, deren Agenten und Agentinnen für die Nordstaaten spionierten.
Ebenso haben die Südstaaten bedeutende Spione vorzuweisen. Neben Rose O’Neal Greenhow hat es auch Belle Boyd bereits zu Lebzeiten geschafft, eine Legende zu werden. Manchmal allerdings übersteigt der Mythos die Realität…
Boyd wurde 1844 geboren und wuchs in einer wohlhabenden Südstaatenfamilie in Martinsburg, West Virginia auf. Früh war sie für ihre temperamentvolle Art bekannt, die auch ihre Spionagetätigkeit entscheidend prägen sollte.
Als Martinsburg 1861 von Unionstruppen eingenommen wurde, begann die Spionagekarriere der selbstbewussten Boyd. Es fiel ihr leicht, Kontakte mit den Soldaten zu knüpfen und so an Informationen gelangen.
Sie selbst hat den ersten Kontakt mit den Unionstruppen in ihrer Biografie später sehr dramatisch beschrieben. Viele dieser Berichte gelten heute als größtenteils fiktiv. Demnach erschoss Boyd einen Unionssoldaten, als dieser die Mutter beschimpft hatte. Aufgrund ihrer Reue wurde sie nicht wegen Mord angeklagt, aber das Haus der Familie unter Bewachung gestellt. Auf diese Weise konnte sie die Soldaten flirtend kennenlernen und ausfragen.
Die erlangten Informationen schrieb sie in Briefen nieder ließ sie durch ihre Sklavin zu den Konföderierten transportieren. Dabei nutzte sie einen sogenannten Container als Versteck: ein verborgendes Fach in einer Uhrentasche. Allerdings hatte sie keine kryptografische Erfahrung und verschlüsselte ihre Nachrichten nicht. Nur knapp gelang es ihr daher, einer Strafe zu entkommen, als einer der Briefe entdeckt wurde.
Auch wenn sie anschließend „Nachhilfe“ in Verschlüsselungs- und Spionagetechniken bei einem Oberst der Konföderierten nahm, so waren es doch die waghalsigen Aktionen und nicht professionelle Agentenarbeit, weswegen sie der Nachwelt in Erinnerung blieb und den Spitznamen „La belle Rebelle“ erhielt.
Beispielhaft für das oft furchtlose Vorgehen Boyds ist eine Episode im Jahr 1862. Boyd wurde in den Monaten zuvor verhaftet, ohne dass man ihr etwas nachweisen konnte. Sie nutzte diese Zeit, etablierte freundschaftliche Kontakte mit einigen Unionssoldaten und gelangte an so wichtige Informationen.
Diese ließ sie nicht durch Kuriere transportieren. Statt dessen überbrachte Boyd sie während der Schlacht bei Front Royal dem Südstaaten-General Thomas „Stonewall“ Jackson persönlich. Sie hatte für Jackson bereits mehrere Kuriertätigkeiten ausgeführt. Dabei durchbrach sie mit ihrem Pferd todesmutig die Reihen der Unionsarmee – so schilderte sie es zumindest in ihrer Biografie. Angeblich halfen Jackson diese Informationen bei der Eroberung von Front Royal.
Es grenzte an ein Wunder, dass es Boyd trotz solcher Aktionen und ihrem nach wie vor nachlässigen Umgang mit kryptgrafischer Verschlüsselung immer wieder gelang, einer dauerhaften Verhaftung zu entgehen. Am 29. Juli 1862 allerdings hatte die Glücksträhne ein Ende. Sie wurde im Old Capitol Prison in Washington, D.C. inhaftiert. Angeblich hatte ihr Freund sie verraten.
Einen Monat später schon kam sie durch einen Gefangenenaustausch frei, doch ihre Spionagetätigkeit konnte sie im Grunde nie wieder in vollem Umfang aufnehmen – dafür war sie mittlerweile zu berühmt.
Dennoch versuchte sie sich an einigen weiteren Aktionen, unter anderem dem gescheiterten Transport von Dokumenten nach England, die aber keinen Einfluss mehr auf das Kriegsgeschehen hatten.
Wie so oft in der geheimen Welt der Spionage erhalten schillernde Persönlichkeiten wie Belle Boyd im Nachhinein ein Ansehen, dass weit über die tatsächlichen Verdienste hinausgeht und die Person zum Mythos werden lässt. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich zum Bespiel bei der legendären Spionin Mata Hari aus dem Ersten Weltkrieg beobachten.
Tatsächlich ist eine Beurteilung schwierig, auch weil die hauptsächliche Quellenlage in Form der 1867 erschienenen Biografie „Belle Boyd in Camp and Prison“ von Boyd selbst stammt. Diese steigerte ihren Ruhm stark, auch wenn ein Großteil der Berichte heute als übertrieben und zum Teil komplett erfunden eingestuft werden. Von dem, was wir wissen, hat sie lediglich einen Einfluss auf die erwähnte Schlacht um Front Royal ausgeübt.
Weitere Erfolge wurden vielleicht auch durch ihren nachlässigen Umgang mit notwendigen Spionagetechniken wie Verschlüsselung und ihrem offensiven Wesen verhindert. Es ist nur eine schmale Grenze zwischen Heldentum und Leichtsinn und bei Boyd stellt sich die Frage, ob sie sich bewusst war, wann sie diese übertreten sollte und wann nicht.
Historiker sind sich heutzutage einige, dass Boyd nicht zu den entscheidenden Spionen der Südstatten gehörte – das allerdings hat ihrem Ruhm keinen Abbruch getan. Ihre Biografie war ein großer Erfolg und in den folgenden Jahren hielt sie zahlreiche Vorträge im ganzen Land. Sie wurde zu einer Symbolfigur der Südstaaten, bevor sie 1900 im Alter von 56 Jahren starb. Im „Belle Boyd House and Museum“ in West Virginia ist ihr bis heute eine Ausstellung gewidmet.
Autor: Florian Schimikowski
Veröffentlicht am: 29.07.2020