Ende Januar 1979 kam es zu einem denkwürdigen Ereignis in der (deutsch-)deutschen Geheimdienstgeschichte. Am frühen Abend eines kalten Wintertages lief Oberleutnant Werner Stiller, Offizier und Parteisekretär für wissenschaftlich-technische Aufklärung („Industriespionage“) der Stasi-Auslandsaufklärung HV A, in den Westen über.
Fast ein Jahrzehnt war Stiller der DDR scheinbar treu ergeben, neun Jahre als Mitglied der regierenden Sozialistischen Einheitspartei (SED) und sieben im Dienste des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Als die Zweifel am System des SED-Staates unerträglich wurden, suchte und fand Stiller Kontakt zum westdeutschen Bundesnachrichtendienst (BND). Sein Übertritt jedoch geriet zu einem wahren Husarenritt in Berlins Mitte, wie ihn nur die absurde Teilung Berlins im Kalten Krieg produzieren konnte.
Den Atem der Spionageabwehr der Hauptabteilung II des MfS im Nacken, eilte Stiller nach Dienstschluss am frühen Abend des 18. Januar 1979 in sein Dienstzimmer im MfS-Komplex der Lichtenberger Normannenstraße. Dort brach er Panzerschränke auf und nahm sich an Akten, was er kriegen konnte, um sie im Westen den bundesdeutschen Geheimdiensten als Begrüßungsgeschenk übergeben zu können.
Nach einem Abstecher in seine „konspirative Wohnung“ im Prenzlauer Berg fuhr Stiller zum „Tränenpalast“, dem Grenzbahnhof Friedrichstraße. Mit seinem Dienstausweis verschaffte er sich Zutritt zu einer Grenzschleuse des MfS und gelangte so auf den Bahnsteig der U6, die die West-Berliner Stadtteile Tegel und Neukölln verbindet. Nach wenigen Stationen stieg Stiller in ein Taxi an den Flughafen Tegel, um sich dort den Diensten zu stellen. Bereits am nächsten Tag brachte ihn eine Maschine der US-Army von Tempelhof nach München, wo ihn der BND in den folgenden Monaten befragte.
Den Schaden, den Stiller der Stasi zufügte, war enorm. Zahlreiche Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Stasi im Westen wurden enttarnt und verhaftet. In der Folge wurde die operative Arbeit zum Teil massiv gelähmt. Ebenso identifizierte Stiller den Leiter der HV A, Markus Wolf. Dieser galt im Westen bis dato als „Mann ohne Gesicht“, was nicht nur dessen Arbeit einschränkte, sondern einem Affront erster Güte gleichkam.
Die Stasi kochte vor Wut und ließ Stiller wegen Hochverrat in Abwesenheit verurteilen. Sie unterhielt noch jahrelang eine Spezialgruppe, die Stiller ausfindig machen und „zurückführen“ sollte. Doch da war Stiller bereits von der CIA mit dem Decknamen Peter Fischer versehen worden und in den USA untergetaucht. Der Lebemann Stiller zeigte fortan, wie viel er vom Kapitalismus verstand. Er arbeitete für die späteren Skandal-Banken Goldman Sachs und Lehman Brothers in New York, London und Frankfurt.
2010 veröffentlichte Stiller, mittlerweile in Budapest lebend, ein zweites Buch über sein Leben in und mit drei Geheimdiensten (Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten). Der Januar 1979 hat nicht nur Stiller, sondern auch die deutschen Geheimdienste nachhaltig verändert.
Foto: Cover “Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten”, Ch. Links Verlag.
Autor: Christoph Ewering
Veröffentlicht am: 31.01.2017